Von Schein und Sein - Über Fotografie, Museen und das Authentische

Wussten Sie, dass KUNST + kaviar seit einiger Zeit Unterstützung hat? Wir haben die große Freude eine weitere kluge Frau in unserem kleinen Team begrüßen zu dürfen. Phyllis Bacher ist Masterstudentin in den Fächern Geschichte und Deutsche Sprache & Literatur an der Universität zu Köln und unterstütz uns seit einiger Zeit im Bereich Buchhaltung und Organisation. Heute liefert sie einen spannenden Gastbeitrag zu einem Thema, das uns besonders in diesen Zeiten beschäftigt.

Wir danken Phyllis und wünschen viel Spaß beim Lesen!

Anjelika & Karina

Johannes Vermeer: Die Milchmagd, um 1660, Öl auf Leinwand, 41 x 45 cm, Rijksmuseum Amsterdam


Wir sehen hier eine Abbildung von Jan Vermeers Gemälde Dienstmagd mit Milchkrug (1658 –
1660). Zugegeben eine qualitativ nicht sehr hochwertige Abbildung. Wie das Rijksmuseum in Amsterdam recherchierte, kursieren im Netz mehr als 10.000 solcher Kopien. Viele der Fotografien sind nicht sehr gut und zeigen das Kleid der Magd in dem auch oben zu sehenden intensiven Gelb. Wikipedia bietet zu jedem halbwegs namhaften Kunstwerk mindestens eine, meist sogar mehrere divergierende Abbildungen. Wie nah die Fotografie an das tatsächliche Aussehen des Werks herankommt, unterscheidet sich zum Teil immens voneinander und doch gestehen wir Fotografien einen gewissen autoritären Wahrheitsgehalt zu, ganz nach dem Motto: was ich sehen kann, ist echt.

Im Fall der Milchmagd ging es so weit, dass Museumsbesucher das originale Werk in seiner Farbigkeit nicht mehr als authentisch befanden, da die gelbe Färbung fehlte. Das Museum wirkte dem letztlich entgegen, indem es eine hochauflösende Abbildung des Werks im Internet zur
Verfügung stellte. Doch was sagt dieser Vorfall über unsere Sicht auf Fotografie und ihre Autorität im Alltäglichen aus?

Wir leben in einer Welt der Bilder. Fotografien, Filme und Videos begleiten unseren Alltag und formen unsere Sehgewohnheiten. Technische Applikationen werden immer wichtiger und verändern gleichzeitig unsere Wahrnehmung der Dinge. Auf Instagram tummeln sich die Hobby-
Fotografen – eine mehr oder minder perfekte Fotografie jagt die nächste. Uns ist in wenigen Augenblicken ein unermesslich großer Fundus an visuellem Wissen zugänglich, der uns die Welt samt ihrer Vergangenheit greifbarer macht. Wie bereits festgestellt, wohnt Fotografien dabei ein gewisses Maß an vermeintlicher Authentizität und Autorität inne. In einer Zeit, die sich nach Authentischem sehnt und in der das Echte ein bedeutendes Bewertungskriterium darstellt, nicht zu vernachlässigen. Wie in unserem digitalen Zeitalter üblich, besteht der erste Kontakt zu einem Kunstwerk nicht mehr in der Gegenüberstellung mit dem Original im Museum, sondern durch fotografische Abbildungen im Internet.

Und doch ist uns das Original wichtig und lässt auch heute noch Millionen von Menschen in Museen strömen. Dabei spielt sicherlich auch die sakral anmutende Atmosphäre in Museen eine Rolle, neben der besonderen Aura, die das originale Werk verströmt. Lesen wir auf einer Werkbeschilderung das Wort Kopie, stellt sich unweigerlich ein kurzer Moment der Enttäuschung ein, das Werk erfährt eine sofortige Abwertung, obwohl die allermeisten von uns das Original nicht von einer Kopie unterscheiden könnten. Es ist nicht mehr echt, nicht mehr authentisch. Aber was bedeutet dieses Authentische überhaupt und ist der Anspruch an Fotografien als Abbildung der tatsächlichen, echten Wirklichkeit überhaupt realitätstauglich?

Anfänge, Vermassung & Museum


Die erste Fotografie der Weltgeschichte fertigte der Franzose Joseph Nicéphore Niépce im Jahr 1826 an – nach rund acht Stunden Belichtungszeit war auf der mit Asphalt beschichteten Zinnplatte die Aussicht aus seinem Arbeitszimmer zu sehen. Von da an entwickelte sich das neue Medium in Riesenschritten. Ebenfalls ein Franzose, Louis Jacques Mandé Daguerre, erfand knapp dreizehn Jahre später die Daguerreotypie – dasVerfahren, das Fotografieren gemeinsam mit William Henry Fox Talbots Negativ-Positiv-Verfahren massentauglich machte. Wo sich die Fotografie anfangs noch an den visuellen Traditionen der Malerei orientierte, löste sie sich nach und nach davon ab und entwickelte eigene Konventionen in Darstellung und Abbildung. Auch im musealen Kontext fand das Medium eigene Funktionen. Fotografische Abbildungen von Sammlungsobjekten, Museumskonzepten und Ausstellungen gehörten vielerorts spätestens ab dem beginnenden 20. Jahrhundert zum Museum dazu. Doch neben der bloßen Abbildung des Originals zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Werkzustand, ist es Fotografien durch die Mittelbarkeit des Mediums eben auch möglich, den Blick auf das Original zu verändern. Dem Original werden neue Bedeutungen, Wahrnehmungsebenen und Perspektiven eingeschrieben, wie auch im Fall der Milchmagd. Damit entstehen durch die technische Reproduzierbarkeit einerseits Probleme, doch auch Möglichkeiten, die dem Original vorenthalten bleiben. Mit Hilfe digitaler Dienste großer Ausstellungshäuser ist es mittlerweile möglich, so nah an Werkdetails heranzuzoomen, wie es mit dem bloßen Auge im Museum nie
gelingen könnte.

Doch genau diese massenhafte Reproduzierbarkeit samt ihrer grenzenlosen, wenn auch mittelbaren, Zugänglichkeit zu Objekten kritisierte einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Walter Benjamin befürchtete, dass mit der erleichterten und massenhaften Zugänglichkeit ein Verlust der
besonderen Aura, die dem Original innewohnt, einhergeht. Diese Aura des Originals entsteht aus seiner Geschichte, seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit, seiner Einbettung in verschiedene Traditionszusammenhänge. Wie man als laienhafter Museumsbesucher weiß, braucht es einen
Zugang zum Werk, eine Kontextualisierung. Ohne (oder mit zu viel) Information ist der durchschnittliche Besucher aufgeschmissen. Zudem bedarf es gewisser Zuschreibungsprozesse von außen, die uns zeigen, dass ein Werk wichtig ist. Einer dieser Prozesse ist der Übergang des Werks in
ein Museum. Damit wird es aus seinem ursprünglichen Entstehungskontext herausgerissen und einer bestimmten Ausstellungs- oder Sammlungshierarchie untergeordnet. Es entstehen neue Sinnzusammenhänge. Eine Fotografie des Kölner Doms aus dem 19. Jahrhundert wirkt in einer Ausstellung über Fotografie-Geschichte anders als in einer Ausstellung über die Kölner Stadtgeschichte – um nur ein simples Beispiel zu nennen. In beiden Fällen erwarten wir jedoch, dass das Werk eine kunsthistorisch-kulturgeschichtliche Bedeutung hat, da es seinen Weg ins Museum gefunden hat.

Wie bedeutsam es ist, lesen wir an der historischen Einordnung, der Bekanntheit des Werks und der Inszenierung durch das Museum ab. Alles Effekte für Authentizität, die Ausstellungsobjekten zugewiesen werden und die wiederum auf komplexe Kanonisierungsprozesse
im Kunstbetrieb folgen. Betreten wir also ein Museum, verlassen wir uns auf die Wichtigkeit der Ausstellungsstücke. Die Masse kann dabei gar nicht beurteilen, wie authentisch das Gesehene tatsächlich ist, ähnlich einem Instagram-Feed, der lediglich die schönen Seiten des Lebens zeigt. Wir verfügen häufig nicht über das vollständig notwendige Wissen für eine Bewertung, also entscheiden wir nach gesellschaftlichen Zuschreibungen und inszenierten Effekten.

Mediatisierung


Mediatisierung beschreibt in der Museumsforschung ein Phänomen unserer modernen digitalisierten Informationsgesellschaft. Erfahrungen werden nicht mehr selbst gemacht, sondern über Medien vermittelt. Das Vermittlungszentrum für Erfahrungen im Museum lag lange auf dem
Ausstellungsstück selbst als Kommunikator zwischen dem Betrachter und einer nur mittelbar durch das Werk zugänglichen Vergangenheit. Auch Walter Benjamin hielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Unnahbare des ästhetischen Gegenstands, das gewissermaßen durch seine Einzigartigkeit entsteht, für entscheidend, damit der Betrachter mit dem Objekt überhaupt in Kontakt treten kann und vertrat die Meinung, dass durch die technische Reproduzierbarkeit in Fotografien und die damit einhergehende Vermassung des Kunstwerks, sowie die daraus folgende allgemeine Verfügbarkeit, das Objekt seine Unnahbarkeit, sein Besonderes verliert und damit auch die Mensch-Werk-Beziehung
verloren geht.


Jüngere Untersuchungen über das Besucherverhalten im Museum bestätigen diese Befürchtung in der Form, dass sich unsere Museumsbesuche dem Konsum von Massenmedien annähern. Sie sind geprägt durch eine kurze Verweildauer vor den Exponaten und dem Wunsch nach vielfältigen und großen Beständen. Wie analysiert, konnte die Aufmerksamkeit der Besucher für einzelne Exponatedurch medienunterstützte Informationsangebote immens gesteigert werden. Wie es scheint, treten technische Mittler als Ersatz-Kommunikatoren, anknüpfend an unsere durch allgegenwärtige Bilder und durch immer weiter zunehmende Technisierung geprägten Sehgewohnheiten, ein, wo wir
unzugänglich geworden sind für eine intensive Mensch-Werk-Beziehung. Um noch einmal zu unserem Anfangsbeispiel der Vermeerschen Milchmagd zurückzukommen, besteht die Gefahr, dass unser Blick auf das Werk durch Vorerfahrungen mit Fotografien, nicht zuletzt durch eine
unrealistische Erwartungshaltung, verstellt wird. Vergleichbar wäre wohl die Enttäuschung bei einem Besuch der zahlreichen überfüllten Instagram-Reisespots. Der Wahrheitswert, den wir Fotografien zusprechen, kann und soll hier nicht ausgehebelt werden, doch vielleicht lohnt es, wenn wir unsere Sehgewohnheiten dann und wann in Frage stellen.

Phyllis Bacher, September 2022



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